Die Münchner Protestanten feierten 2006 ein denkwürdiges Jubiläum: Die Errichtung der protestantischen Pfarrei durch königliches Dekret am 5. Juli vor 200 Jahren.
So alt ist die Münchner Gesamtkirchengemeinde. Und doch ist sie noch sehr jung, denn ihre Wurzeln reichen nicht bis in die Reformationszeit. Möglicherweise wären auch die Münchner schon 1517, als Martin Luther seine 95 Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg anschlug, in hellen Scharen zum Reformator übergelaufen - wenn sie nur gedurft hätten. Damals gärte auch in München reformatorischer Geist. Die Predigten von Luthers Freund Johann von Staupitz in der Augustinerkirche fanden großen Zulauf und die bayerischen Herzöge waren für die Forderungen des Mönchs von Wittenberg durchaus offen.
Doch als der Reichstag zu Worms 1521 die Reichsacht über Luther verhängte, da wurden die Wittelsbacher entschiedene Gegner der Reformation. Die Religionspolitik, die sie von nun an betrieben, war eine Politik im Schatten des Falkenturms. In dieses Münchner Gefängnis (heute Hotel Vier Jahreszeiten!) wurden im Laufe der Jahre zahllose Protestanten und Wiedertäufer eingekerkert und gefoltert. Auch Hinrichtungen fanden unter Herzog Wilhelm IV. statt. Nach dem Augsburger Reichstag von 1530 gingen zwar die blutigen Verfolgungen zurück, nicht aber die Bemühungen der Herzöge, die Reformation weiter zu bekämpfen. Nur die Mittel änderten sich. Die Landesverweisung wurde jetzt rücksichtslos eingesetzt. So beklagte der Rat der Stadt München 1570 in einer Eingabe, dass sich die Stadt im Niedergang befindet; sie ist verarmt, weil zahlreiche angesehene und vermögende protestantische Familien die Stadt verlassen haben.
Herzog Albrecht V. aber blieb unerbittlich bei dem Ziel der Vertreibung aller Protestanten aus Bayern. Während der Regierungszeit seiner Nachfolger, Wilhelm V. und Maximilian I. werden unter tatkräftiger Mithilfe der Jesuiten die Reste protestantischen Lebens in München weitgehend ausgetilgt. Nun kann der Erzengel Michael über den Drachen, das ist die "lutherische Ketzerei", triumphieren. Das zeigt heute noch sehr plastische die Fassade von St. Michael in der Fußgängerzone. Aber war da nicht doch die Rettung der protestantischen Sache in Bayern und in München in Sicht?
Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges zog der protestantische Schwedenkönig Gustav Adolf in einem unvergleichlichen Siegeszug bis nach München. Jetzt wäre doch die Gelegenheit gewesen, den Protestanten in München, die seit mehr als 100 Jahren nur im Verborgenen ihrem Glauben leben konnten, zu ihrem Recht zu verhelfen. Am Himmelfahrtstag 1632 ließ der König tatsächlich im Schönen Saal der Neuen Veste der kurfürstlichen Residenz einen evangelischen Gottesdienst abhalten. Nach langer Zeit erklang wieder ein Lutherlied in München. Aber den Anfang eines evangelischen Gottesdienstes und einer evangelischen Gemeinde bedeutete dies nicht. Einfach deshalb, weil es in München keine Protestanten mehr gab.
In der jetzt folgenden Kurfürstenzeit ist Bayern weitgehend abgeschottet vom "protestantischen Ausland". Die Wittelsbacher Herrscher tun alles, um Bayern weiterhin katholisch zu erhalten. Sie können zwar nicht verhindern, dass evangelische Elemente an vielen Stellen auftauchen, trotzdem muss man feststellen, dass bis zu Kurfürst Karl Theodor (1777-1799) "bayerisch" stets auch "katholisch" heißt. Sollte das für immer so bleiben?
Als der pfälzisch-bayerische Kurfürst Karl Theodor ohne legitime Erben stirbt, beerbt ihn der nächste Pfälzer aus dem Hause Wittelsbach, der Graf Max Joseph von Zweibrücken-Birkenfeld. Der Graf zieht im März 1799 als neuer Kurfürst in München ein. Und er kommt - welch eine Sensation - mit seiner lutherischen Frau Friederike Wilhelmine Karoline von Baden. Die junge Frau hatte ihn nicht bedingungslos geheiratet. In ihren "Ehepakten" hatte sie sich ausbedungen, jederzeit ihren lutherischen Glauben praktizieren und auch einen eigenen Kabinettsprediger wählen zu können.
So kam es am 2. Juni 1799 zu einem geschichtlichen Ereignis: Im grünen Saal des Schlosses Nymphenburg wurde der erste evangelische Gottesdienst in München seit König Gustav Adolf gefeiert. Es war ein Privatgottesdienst für die lutherische Kurfürstin und die ca. 150 Protestanten des Hofstaates.
Zum Winter übersiedelte der Hof in die Residenz in der Stadt. Dort konnte am Palmsonntag des Jahres 1800 eine regelrechte Hofkirche vom Kabinettsprediger Ludwig Friedrich Schmidt eingeweiht und in Gebrauch genommen werden. Das ehemalige Hofballhaus, das am Brunnenhof lag (heute ist hier das Zierhöfchen), war dafür umgebaut worden. Diese Kirche bot bereits 900 Personen Platz. Sie war alles andere als eine Verlegenheitslösung. Aber sie war nur die Hofkirche der Kurfürstin. Doch mehr und mehr nahmen die Gottesdienste den Charakter eines "publicum exercitium", eines allgemeinen öffentlichen Gottesdienstes an, in dem selbst Katholiken das Abendmahl gereicht wurde.
Nachdem der Mannheimer Kaufmann Johann Balthasar Michel als erster Evangelischer sich das Bürgerrecht erstritten hatte, und im Januar 1803 das Bayerische Religionsedikt erschienen war (Katholiken und Protestanten sind gleichberechtigt), drängten ab 1801 zahlreiche Protestanten nach München. Und sie suchten den Anschluss an eine Pfarrei. Doch die gibt es nicht. Was es gibt, ist lediglich die Gemeinde, die sich im Schloss und in der Residenz trifft, die Hofgemeinde der Kurfürstin Karoline. Im Jahre 1806 zählt diese Gemeinde immerhin 1200-1300 Seelen. Es sind Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung, nicht mehr nur die Hofbediensteten. Damit drängt die Gemeinde "vom Schloss in die Stadt".
Mehr und mehr verschob sich nun die seelsorgerliche Tätigkeit des Kabinettspredigers auf die in München zugereisten Protestanten. Die Arbeit vermehrte sich, Schmidt bat um einen Gehilfen und - er ersuchte um die Errichtung einer Protestantischen Pfarrgemeinde in der Stadt! Unter nachdrücklicher Einmischung der (jetzt) Königin Karoline erfolgte mit Datum vom 5. Julius 1806 die königliche Bewilligung einer Protestantischen Pfarrgemeinde in München. Die Bekanntmachung dazu war am 30. Juli 1806 im Königlich-Baierischen Regierungsblatt zu lesen.
Da es keine weiteren Mittel gab, wurden Hofkirche und Pfarrei einfach vereinigt. Der Kabinettsprediger wurde gleichzeitig Stadtpfarrer. Immerhin bekam er einen "Gehilfen" zur Seite gestellt, Pfarrer Georg Michael Weber. Als Gotteshaus wurde der Gemeinde die Salvatorkirche überlassen, die aber von Anfang an zu klein war und deshalb nie in Benützung genommen worden ist (bis 1833 fanden die Gottesdienste weiter in der Residenz statt). Von jetzt an stehen auch den protestantischen Geistlichen all die Rechte zu, die bisher nur die katholischen Pfarrer hatten.
Für die Zukunft dieser protestantischen Pfarrei in München öffnet sich nun ein weites Tor: Die kleine evangelische Schule wird eine städtische werden, bedeutende Wissenschaftler, Künstler und Beamte werden das öffentliche Leben mitbestimmen, die anwachsende Gemeinde wird 1810 sogar Dekanat werden und schließlich wird man auch an den Bau einer eigenen Kirche denken können.
Die erste evangelische Kirche in der Stadt wurde dann 1833 eingeweiht, die sog. Stachuskirche, die später den Namen St. Matthäus erhielt. Sie war auch die Kirche der evangelischen Königinnen Karoline, Therese und Marie. Vor allem aber war sie für die ständig wachsende Gemeinde Mittelpunkt und geistige Heimat. Als Zentrum der Münchner Gemeinde wurde sie schließlich auch Mutterkirche für die gesamte oberbayerische Diaspora. Inzwischen umfasst die evangelische Gesamtkirchengemeinde rund 266 000 Menschen, das sind 12% der Bevölkerung. Welch ein Wandel, wenn man an die Zeit um 1575 denkt!
Die evangelische Gemeinde München beging dieses Jubiläum 2006 mit einem Vortragsabend und mit einem Gottesdienst in der St. Markuskirche.
Armin Rudi Kitzmann, Pfarrer und Studiendirektor i.R., 1. Juni 2006